Unglücklich durch Selbstoptimierung? Perfekt sein als Lebensaufgabe
Lebe dein bestes Ich! Werde die beste Version deiner Selbst!
Überall liest man sie, diese Aufrufe zur Selbstoptimierung und zur wahren Erfüllung des Lebensglücks. Und es stimmt ja prinzipiell auch – es gibt unzählige Möglichkeiten, wie wir uns selbst und unser Leben noch weiter verbessern können. Schließlich sind wir alle nicht perfekt und oftmals leben wir auch ziemlich unbewusst vor uns hin und bemerken vor lauter Alltag gar nicht, dass wir eigentlich viel mehr aus uns und unserem Dasein machen könnten.
Die Ansätze zur Selbstoptimierung sind dabei so unterschiedlich wie zahlreich. Hier einige beliebige Beispiele für die To Do-Liste:
Die Liste an Beispielen ließe sich jetzt beliebig weiterführen. Grundsätzlich sind das auch alles ganz wunderbare Dinge und Ansatzpunkte, die unser Leben wirklich enorm bereichern können.
Ich bin durchaus ja auch selbst ein großer Verfechter von Persönlichkeitsentwicklung und Selbstfindung. Das sind Themen, die mir wirklich am Herzen liegen. Die aktive Auseinandersetzung mit sich selbst und dem, was man im Leben will oder nicht will ist eine großartige Chance, ein glücklicheres Leben zu führen, das einem selbst entspricht. Das Bedürfnis nach persönlichem Wachstum ist etwas Wunderbares und absolut unterstützenswert.
Persönlichkeitsentwicklung = Selbstoptimierung?
Ich bin allerdings überhaupt kein Fan davon, wenn aus Persönlichkeitsentwicklung und Selbstfindung ein Hochleistungs-Lebenssport wird. Persönlichkeitsentwicklung ist in meinen Augen auch nicht das gleiche wie Selbstoptimierung.
Besonders unschön finde ich die teilweise sehr starke Fixierung auf Zahlen und die Außenwirkung bei der Selbstoptimierung: Wie viele Kalorien habe ich gegessen? Und wie viel Gramm von welchem Lebensmittel? War die Verteilung der Nährstoffe optimal? Wie viele Schritte bin ich heute gelaufen und wie viele Kalorien habe ich dabei verbrannt? Wie haben sich mein Gewicht und der Umfang meiner einzelnen Körperteile von dieser Woche zu letzter Woche verändert? Ist mein Körperfettanteil niedriger geworden, habe ich an Muskelmasse zugelegt? Wie sieht es mit meinem Puls aus? Und wie viele Bücher mit wie vielen Seiten habe ich diesen Monat gelesen? Wie viele Länder und Städte habe ich im letzten Jahr besucht? Welche Punkte auf meiner „Bucket List“ habe ich bereits erledigt?
Und ganz wichtig: Die Ergebnisse und der aktuelle Stand deiner Selbstoptimierung müssen unbedingt mit der Welt auf Instagram, Facebook oder sonst wo geteilt werden, damit auch wirklich jeder sieht, wie großartig und besonders das eigene Leben ist.
Wer soll das alles schaffen?
So entwickelt sich die Selbstoptimierung schnell zu einer „Schneller-Höher-Weiter“-Stress- und Überforderungsfalle. Hier werden teilweise völlig unrealistische Maßstäbe als „Standard“ gesetzt, denen eigentlich kaum jemand gerecht werden kann. Wie soll man bei solchen Anforderungen an sich selbst alle Lebensbereiche wie Arbeit, Familie, Haushalt, Freunde und Freizeit unter einen Hut bringen?
Muss man sich nicht zwangsläufig unzulänglich und minderwertig fühlen, wenn man diese ganze Selbstoptimierung nicht lebt oder schlicht nicht schafft?
Selbstoptimierung als Luxus?
Ist Selbstoptimierung vielleicht nur etwas für Leute, die zu viel Zeit haben? Ein Luxus, den sich einfach nicht jeder leisten kann?
Man könnte darauf nun erwidern, dass das natürlich auch eine Frage der Prioritäten ist. Wenn einem etwas wirklich wichtig ist, dann nimmt man sich dafür auch entsprechend Zeit. Das ist auch sicher richtig. Für jeden Mensch hat ein Tag 24 Stunden. Wie und mit was wir diese Zeit füllen ist eine absolut individuelle Entscheidung. Dennoch ist es zum Beispiel für einen kinderlosen Single erheblich einfacher, sich so intensiv mit sich selbst zu beschäftigen als für eine alleinerziehende Mutter mit vier Kindern. Zudem spielt oftmals nicht nur Zeit eine Rolle, sondern auch Geld.
Insofern ist die Auseinandersetzung mit sich selbst und der eigenen Weiterentwicklung durchaus in gewisser Hinsicht ein Luxus. Leisten kann ihn sich trotzdem jeder – in seiner ganz persönlichen Art und Weise. Es muss nicht das Yoga-Retreat auf Bali sein und auch nicht das 2.000 Euro teure Selbstfindungs-Seminar. Es ist auch nicht nötig, sich den ganzen Tag von einer Selbstoptimierungs-Maßnahme zur nächsten zu hangeln, um abends dann alle To Do-Punkte von der persönlichen Perfektionierungs-Liste abhaken zu können.
Das ist nicht das, was Persönlichkeitsentwicklung sein sollte. Solch ein Optimierungs-Marathon kann auf Dauer kaum glücklich machen.
Perfekt sein als Lebensaufgabe?
Ist das Persönlichkeitsentwicklung?
Und vor allem: Diese ständige Selbstoptimierung suggeriert dir, dass du so wie du im Moment bist, einfach noch nicht gut genug bist. Du kannst dich immer überall noch weiter verbessern und optimieren. Persönliche Perfektion wird zur Lebensaufgabe und zum Lebensmittelpunkt. Von Auswüchsen wie dem immer weiter um sich greifenden „Schönheits“-OP- Wahn fangen wir jetzt gar nicht erst an.
Für mich besteht das Ziel von Persönlichkeitsentwicklung darin, mit sich selbst zufrieden und im Einklang zu sein. Sich bewusst zu machen, was man wirklich will im Leben und was man nicht will. Was einem eigentlich selbst entspricht und was einem irgendwie im Laufe der Jahre von außen aufgedrückt wurde.
Persönlichkeitsentwicklung ist der Weg zu sich selbst und das bedeutet für mich im Endeffekt Frieden und Ruhe. Dieser Selbstoptimierungswahn geht häufig schon wieder genau in die andere Richtung. Man muss „das Beste“ aus sich herausholen, immer weiter, höher, schneller, besser. Dabei droht man sich viel mehr selbst zu verlieren und orientiert sich wieder nur an Maßstäben anderer. Eigentlich ist es genau das Gegenteil dessen, was tatsächliche Persönlichkeitsentwicklung sein sollte.
Was ist eigentlich überhaupt dieses beste Ich?
Und was genau soll dieses „beste Ich“ eigentlich sein? Oder die „beste Version deiner Selbst“? Und vor allem: Wer entscheidet denn, was das Beste ist?
Ist jemand ein schlechterer Mensch, wenn er zum gemütlichen Grillabend zu seinem Steak (statt mariniertem Tofu) noch ein Bier trinkt und sich nicht bereits um 20 Uhr nach Hause verabschiedet, weil er ja sonst nicht fit ist für seine „Morgenroutine“? Du weißt schon – um 5 Uhr aufstehen und meditieren und so.
Langschläfer scheinen sowieso völlig von ihrem besten Ich entfremdet zu sein. Man hat beinahe das Gefühl, gänzlich charakterlos und voller Schwäche zu sein, wenn man eher zu den „Eulen“ gehört und lieber spät schlafen geht und entsprechend dann auch länger im Bett verweilt.
Und hat man sein bestes Ich völlig aufgegeben, wenn man diese ganze Optimierung gar nicht möchte? Ist man dann ein Mensch zweiter Klasse, schwach, disziplinlos oder eben einfach noch nicht „so weit“, dass man sein „ganzes Potential“ (was auch immer das genau ist) entfalteten will?
Was spricht eigentlich dagegen, dass dein Ich genau so wie es ist, gut und richtig ist? Vielleicht muss dein Ich gar nicht optimiert werden? Und kann man sein „Ich“ eigentlich überhaupt „optimieren“?
Zeigt sich unser bestes Ich nicht eigentlich vielmehr auch in unseren Handlungen und dem, wie wir mit anderen Menschen und der Umwelt umgehen? In unseren kleinen und großen Entscheidungen, unseren Werten und Normen und dem, was wir um uns herum bewirken? Unser bestes Ich kann sich in den kleinsten Dingen ausdrücken – wir bringen unserem Partner morgens einen Kaffee ans Bett, schenken unserer Mutter einfach so mal Blumen oder helfen einer alten Dame über die Straße. Wem bringt unser „bestes Ich“ etwas, wenn wir nur mit uns selbst beschäftigt sind?
Egozentrismus durch Selbstoptimierung?
Diese ständige Fokussierung auf sich selbst führt häufig leider auch dazu, dass die Selbstoptimierung in einer teilweise extremen Fixierung auf die eigene Person endet. Alles dreht sich nur noch um dich selbst. Die Menschen um einen herum sind nur solange akzeptiert und interessant, wie sie in den eigenen Plan passen. Kollidieren Wünsche oder Ziele, werden eher selten Kompromisse geschlossen. Die persönlichen Bedürfnisse stehen über allem.
Ist es wirklich das, was wir eigentlich wollen und uns glücklich macht? Ich denke nicht.
Hör in dich rein!
Deshalb: Die Beschäftigung mit sich selbst ist schön und gut und wichtig. Aber setze dich nicht unter Druck und lass dir nicht das Gefühl geben, du müsstest dein Leben auf irgendeine bestimmte Art und Weise leben, damit es wirklich gut ist und damit DU wirklich gut bist. Was andere für die Offenbarung zum Lebensglück halten, muss für dich nicht stimmen.
Was tut dir gut? Hör in dich rein! Was machst du nur, weil du denkst, dass du es tun solltest oder müsstest? Willst du das alles wirklich oder empfindest du es eigentlich nur als Stress und Überforderung?
Vergleichst du dich mit anderen und fühlst dich schlecht dabei?
Es ist normal, dass wir uns mit anderen Menschen vergleichen. Der oft gehörte Rat, dies nicht zu tun, ist ziemlich unsinnig, weil es einfach ein menschliches Grundbedürfnis ist und wir darüber auch unseren eigenen Standpunkt bestimmen können. Du kannst dich also ruhig weiter vergleichen – aber du solltest dich dabei nicht minderwertig und unzulänglich fühlen. Oftmals trügt der „schöne Schein“ nach Außen ohnehin. Die Leben der anderen Menschen sind in der Regel auch nicht durchgängig großartig und sorgenfrei. Und grundsätzlich ist es auch eine tolle Sache, sich durch andere inspirieren zu lassen und sich positive Vorbilder zu suchen. Dies sollte dir aber Kraft geben, anstatt dich runterzuziehen und unglücklich zu machen.
Dein bestes Ich ist bereits da!
Du musst niemand etwas beweisen, auch nicht dir selbst. Du hast immer die Wahl, wie du dich verhältst und was du für ein Mensch sein willst. Heute und jeden Tag. Dazu musst du nichts an dir optimieren oder erst noch erreichen. Dein bestes Ich ist bereits da! Du hast die beste Version deines Selbst schon genau jetzt in dir. Welche Entscheidungen du triffst und was du selbst für das Beste hältst, das liegt ganz allein in deiner Hand.
Persönlichkeitsentwicklung hilft dir, so zu leben und zu handeln, wie du es selbst möchtest und wie es deinem Inneren und deinem „Ich“ entspricht. Wenn es also überhaupt etwas zu „optimieren“ gibt, dann sind es deine Handlungen bzw. deine Handlungsfähigkeit. Du kannst neue Fertigkeiten lernen (wie z.B. „Nein-Sagen“) und üben, dein Leben intensiver und bewusster zu leben (z.B. durch Achtsamkeit).
Trotzdem solltest du nie vergessen: Dein ICH ist gut und richtig so, wie es ist!
Wie stehst du persönlich zum Thema Selbstoptimierung? Welche Erfahrungen hast du gemacht? Sind Persönlichkeitsentwicklung und Selbstoptimierung für dich das Gleiche?
Schreib uns deine Meinung in den Kommentaren! Ich freue mich auf eine spannende Diskussion!
Titelbild: by Toni B. Gunner
Du schreibst mir so was von aus der Seele mit dieser fanatische. Selbstoptimierung, die immer mehr um sich greift…ich trinke gerne guten Wein, ich rauche, mache Sport, esse Fleisch, liebe Gemüse und Salat, meditiere und schlafe gerne sehr lang…aber alles in Maßen und so dass es mir gut geht! Die Diva mit der Delle eben ??♀️
Liebe Heike,
vielen Dank für deinen Kommentar! Und ja, genau so sehe ich das auch. Wir sollten vor lauter Optimierung und Disziplin nicht das LEBEN vergessen. Man darf auch mal drei Stück Kuchen auf einmal essen und ein ganzes Wochenende gammelnd auf dem Sofa verbringen ohne gleich ein schlechter Mensch zu sein. Alles im Leben ist eine Frage der Balance! <3
In diesem Sinne: Lass es dir weiter gut gehen!
"Diva mit der Delle" gefällt mir! :D
Alles Liebe,
Andrea